Meine wichtigste Frage an alle Kandidatinnen und Kandidaten zum Parteivorsitz ist:
Was wollt Ihr dafür tun, dass den Wählerinnen und Wählern mehr direkte Mitentscheidung möglich wird, indem die SPD die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene initiiert?
Unsere repräsentative Demokratie lechzt seit Mitte der 80er Jahre danach, durch einige direktdemokratische Elemente ergänzt zu werden.
Dass das nie passiert ist, hat die Frustration bei Wählerinnen und Wählern in den vergangenen 40 Jahren mehr und mehr steigen lassen bis zur jetzigen Situation.
Die SPD hat die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid seit ihrer Gründung verfochten und auch in den vergangenen 30 Jahren viele positive Beschlüsse dazu gefasst auf Bundesparteitagen und auch Anträge in den Bundestag gebracht.
Aber wir haben es nie zur Voraussetzung für eine Große Koalition gemacht, dabei wäre die für eine Grundgesetzänderung mit 2/3 Mehrheit gebraucht worden.
Das hatte ich immer erhofft und erwartet.
Diesmal steht im Koalitionsvertrag:
Die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid soll geprüft werden.
Immerhin ein Fortschritt.
Wie weit ist denn die Prüfung bisher?
Ich habe noch nichts gehört.
Volksbegehren und Volksentscheid wäre für mich der Dreh- und Angelpunkt, an dem ich entscheiden würde, ob wir in einer großen Koalition noch 2 Jahre bleiben.
Haben wir erstmal Volksbegehren und Volksentscheid im Grundgesetz, dann können wir ganz anders Politik in Sachthemen machen, indem wir für Bürgerversicherung, Steuergerechtigkeit, Klimapolitik auch zusammen mit Bündnispartnerinnen aus der Gesellschaft (Umweltverbände, Sozialverbände, Gewerkschaften, Kirchen) für Volksbegehren streiten.
Und bitte:
Habt jetzt keine Angst vor der Auflösung der repräsentativen Demokratie!
Das ist eine Ergänzung und funktioniert in den Ländern und Kommunen meist ganz gut.
Nur die Bundes- und Europaebene fehlen.
Der Brexit ist kein Gegenargument: Das war ein von der Regierung verordnetes Referendum. Wenn es Volksbegehren in Großbritannien gäbe, dann hätte es längst eine 2. Abstimmung gegeben.
Ein Volksentscheid ersetzt einen Beschluss von Bundestag und Bundesrat. Und kann wie jedes Gesetz und jeder Beschluss des Bundestages auch wieder geändert werden, sei es durch einen Beschluss von Bundestag (und Bundesrat) oder einen neuen Volksentscheid.
Und natürlich kann ein Volksentscheid nie den Grundrechtsteil des Grundgesetzes aushebeln. Also die Einführung der Todesstrafe oder die Abschaffung von Grundrechten geht über einen Volksentscheid genauso wenig wie über einen Beschluss des Bundestages.
Natürlich machen Wählerinnen und Wähler genauso Fehler wie Politikerinnen und Politiker auch. Das geschieht bei Wahlentscheidungen, bei Volksentscheiden und bei Abstimmungen im Bundestag.
Daraus kann man lernen und es dann wieder korrigieren.
Aber gerade der Lernprozess ist ein wichtiger Bestandteil des Prozesses, um die Bevölkerung insgesamt politisch mündiger zu machen.
Ist das für die Menschen zu kompliziert?
Nein. Sie können immer noch ihre Entscheidung bei einem Volksentscheid nach einer Empfehlung einer Person ihres Vertrauens (der Bundeskanzlerin, des lokalen MdBs) oder einer Organisation ihres Vertrauens (Greenpeace, AWO, DGB, etc.) oder dem Leitmedium ihrer Wahl (Spiegel, Bild, RTL, …) fällen, ohne sich in die komplizierten Einzelheiten einer Materie einzuarbeiten.
Das dürfen sie bei Bundestagswahlen ja auch.
Natürlich besteht da ein Raum für Manipulation.
Aber nicht mehr als bei Wahlen, eher weniger.
Bestimmte Fragen trauen sich Politiker auch nicht anzugehen aus Angst vor den Wählerinnen und Wählern.
Und um alle mitzunehmen wäre es auch wichtig, bestimmte Themen in der Bevölkerung breit zu diskutieren und dann auch gemeinsam zu beschließen,
z.B. zur Frage:
Wie wollen wir unser Leben umsteuern, um den Klimawandel zu stoppen?
Da hilft keine Anordnung von oben, gegen die dann die „Kleinen“ protestieren, die die Mehrheit für sich beanspruchen.
So etwas Großes wie das Umsteuern Deutschlands und Europas angesichts der Klimakrise muss gemeinsam diskutiert und dann mehrheitlich in einem Volksentscheid beschlossen werden.
Die Frage ist: Vertrauen wir den Wählerinnen und Wählern?
Trauen wir ihnen zu, sich auch in einzelnen Sachfragen entscheiden zu können?
Oder trauen wir ihn nur zu, wie bei Wahlen zu Personen und ganzen Wahlprogrammen Stellung nehmen zu können?
Trauen wir den Wählerinnen und Wählern etwas zu?
Oder halten wir sie für dumm?
Demokratie lebt davon, wenn Politikerinnen und Politiker den Wählerinnen und Wählern vertrauen.
Und wenn diese den Politikerinnen und Politikern vertrauen.
Wenn wir den Menschen nicht vertrauen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie uns auch ihr Vertrauen entziehen.
Und genau das tun sie leider gerade.
Durch unser konsequentes Eintreten für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid könnte das anders werden.
Wir würden deutlich machen, wofür die SPD seit der Regierungserklärung Willy Brandts vor 50 Jahren steht: „Mehr Demokratie wagen!“
Wir würden die Wählerinnen und Wähler als Souverän ernstnehmen und ihnen etwas zutrauen.
Wir würden den Graben zwischen „den Politikern“ und den „den Wählern“ verkleinern.
Wir würden Ohnmachtsgefühle durch Ermutigung und Empowerment ersetzen.
Und wir würden uns auf einen gemeinsamen Weg politischer Lernprozesse machen, auf dem wir uns den Sachthemen zuwenden, die für die Zukunft unserer Gesellschaft wichtig sind.