Direkte Demokratie und Volksentscheide

I. Persönliche Erfahrungen

Das Thema „Direkte Demokratie und Volksentscheide“ bewegt mich seit langem. Dazu möchte ich euch ein wenig erzählen von meinen eigenen politischen Erfahrungen. Die habe ich zum Großteil in den 80er und der ersten Hälfte der 90er Jahre gemacht. Sie liegen also schon etwa 25 Jahre zurück und stammen somit aus einer Zeit, als man erst begann mit Computern zu arbeiten und das Internet aufzubauen, als beides unsere Gesellschaft noch nicht so dominierte wie heute.

Ich war damals zunächst als Schüler und – nach einem Freiwilligendienst in der Friedensbewegung in den USA – dann als Student politisch aktiv bei den Jungsozialisten, also den Jusos, und in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Ich war unter anderem aktiv als Juso-Ortsvorsitzender in meiner Heimatstadt Uetersen und als Juso-Kreisvorsitzender im Kreis Pinneberg, als Ratsherr, also Mitglied der Ratsversammlung der Stadt Uetersen, und als bürgerschaftliches Mitglied im Schulausschuss und im Umweltausschuss des Kreises Pinneberg.

Kommunalpolitik spielte sich damals in Schleswig-Holstein noch weitgehend hinter verschlossenen Türen ab. Die Sitzungen von Gemeindevertretungen, Ratsversammlungen und Kreistagen waren zwar öffentlich, aber die Sitzungen der Ausschüsse und damit auch ihre Vorlagen und Protokolle waren streng geheim. Und damit konnten weder die Bürger noch die Presse nachvollziehen, wie und warum bestimmte Entscheidungen eigentlich zu Stande kamen. Sie waren angewiesen auf vertrauliche Informationen hinter vorgehaltener Hand, die natürlich nie objektiv sondern sehr subjektiv von den Politikern gestreut oder weitergegeben wurden. Und obwohl oder auch weil die Stadt Uetersen seit damals mehr als 40 Jahren überwiegend mit sozialdemokratischen Mehrheiten regiert wurde, hatten sich in ihr verkrustete Strukturen und Machtklüngel innerhalb der örtlichen Sozialdemokratie gebildet, gegen die wir Jusos aufbegehrten. Nicht viel anders übrigens, als es 20 Jahre zuvor, 1968, diejenigen getan hatten, die sich mittlerweile gut in der Macht eingerichtet hatten. Nachdem er eine Mitgliederversammlung bei uns miterlebt hatte, beschrieb unser damaliger Juso-Landesvorsitzender das Erlebte mit den Worten: „Das ist ja schlimmer bei euch, als in Sibirien.“

Und so verschaffte er mir die Ehre, als Vertreter des Juso-Landesverbandes in der Arbeitsgruppe der SPD-Landtagsfraktion in Kiel mitzuarbeiten, die es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, die Kommunalverfassung des Landes Schleswig-Holstein zu reformieren.

Denn mittlerweile hatte nach Jahrzehnten der Vorherrschaft der CDU, zuletzt unter Gerhard Stoltenberg und Uwe Barschel, und nach der Pfeiffer-Barschelaffäre im Jahr 1987, bei der Landtagswahl im Mai 1988 die SPD unter Führung von Björn Engholm 55 % der Stimmen und die absolute Mehrheit der Mandate im Kieler Landtag gewonnen. Und nun sollten auf allen Ebenen Reformen durchgeführt werden , um Verkrustungen aufzubrechen und die Politik bürgernäher, transparenter, offener und damit demokratischer zu machen,  – möglichst noch bevor sich die SPD zu sehr an die Macht gewöhnte und selber Klüngel und Verkrustungen ausbildete, die sie wieder weniger offen und reformbereit machen würde.

In ihrer Zeit als Opposition hatte die SPD bereits Vorschläge entwickelt, wie die Einsetzung von Gleichstellungsbeauftragten, die Einführung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Ausschusssitzungen und der dazugehörigen Unterlagen und Protokolle und die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene. Aber würde sie das jetzt, einmal an die Macht gelangt, auch umsetzen? Gegen den Widerstand der SPD-Kommunalpolitiker aus Städten wie Uetersen, die sich in ihren Privilegien bequem eingerichtet hatten?

Das war nun also meine Aufgabe als Juso in der Arbeitsgruppe: Die SPD-Landtagsfraktion bei ihren Versprechen zu behaften und konkrete Vorschläge für die Einführung von Einwohneranträgen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden für die kommunale Ebene vorzulegen.

Zum Glück fand ich unter den Abgeordneten und in Innenminister Hans-Peter Bull gleichgesinnte Verbündete, so dass meine Vorschläge dann Eingang in die Gesetzesentwürfe des Ministers und der SPD-Landtagsfraktion fanden. Und so wurden die grundsätzliche Öffentlichkeit der kommunalen Ausschusssitzungen und die Einführung von Einwohneranträgen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden Bestandteil der Kreis- und Gemeindeordnungen, also der Kommunalverfassung des Landes Schleswig-Holstein.

Gleichzeitig sollte auch die Landesverfassung überarbeitet werden. Um auch hier direktdemokratische Elemente wie Volksbegehren und Volksentscheid einzuführen, verfasste ich in einem Sommerhaus in Dänemark, zusammen mit Engholms Redenschreiber in der Staatskanzlei, dem späteren langjährigen Kieler Bundestagsabgeordneten und heutigen Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels eine Broschüre im Auftrage des Juso-Landesverbandes. Darin legten wir unsere Vorschläge für eine demokratischere Landesverfassung und Richterwahl vor. Auch damit fanden wir Gehör und trafen auf ähnlich denkende Politiker in Regierung und Parlament, die Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheide in der Verfassung des Landes Schleswig Holstein verankerten.

In ihrem Berliner Grundsatzprogramm im Dezember 1989 sprach sich dann die SPD auch dafür aus, Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auch auf der Bundesebene einzuführen und sie im Grundgesetz zu verankern.

Mittlerweile war wenige Wochen zuvor in Berlin die Mauer gefallen. Und erst an den Runden Tischen und dann in den ersten demokratisch gewählten Parlamenten wurden die Verfassungen für Kommunen und Länder im Osten Deutschlands neu geschrieben. Und woran orientierte man sich? An der modernsten und demokratischsten Landesverfassung und der modernsten und demokratischsten Kommunalverfassung, die es damals in Westdeutschland gab, also den Vorbildern aus Schleswig-Holstein. Und so fanden die direktdemokratischen Elemente Volksbegehren und Volksentscheid auch hier Einzug.

Schon seit etwa 150 Jahren sind in der Schweiz die direktdemokratischen Elemente Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid ein wichtiger und gelebter Bestandteil der Demokratie. Im Jahre 1990 hatten die Schweizer Jusos unter ihrem Vorsitzenden Andi Gross eine Initiative zur Abschaffung der Schweizer Armee, die Initiative „Schweiz ohne Armee“ gestartet.[1]  Gegen die gesamte Presse und politische Öffentlichkeit errangen sie zwar keinen Sieg, aber mit mehr als 30 % Zustimmung einen beachtlichen Erfolg in der sehr konservativen und militärverliebten Schweiz. So eine große Zustimmung hatte niemand erwartet.

Mit Andi Gross und weiteren Schweizern wie dem mittlerweile in Schweden lebenden Bruno Kaufmann und VertreterInnen aus der Friedensbewegung und der Demokratiebewegung gründeten wir im Sommer 1991 in Rostock eine Bewegung für ein direktdemokratisches Europa unter dem Namen eurotopia. Das Ziel: Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auch auf der europäischen Ebene einzuführen. Diesem Ziel schloss sich auch der SPD-Bundesparteitag in Bonn am 16. – 17. November 1992 auf meinen Antrag hin an.

So weit zu meinen Erfahrungen. Aber warum bin ich eigentlich so ein glühender Verfechter von Volksbegehren und Volksentscheid?

Damit komme ich zu Teil 2 meiner Überlegungen:

II. Warum braucht unsere repräsentative Demokratie die Ergänzung durch direktdemokratische Elemente?

A. Voraussetzungen

Demokratie bedeutet Volksherrschaft. „Alle Macht geht vom Volke aus“ heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. „Es übt sie durch Wahlen und Abstimmungen aus.“ Heißt es weiter.

Demokratie bedeutet, dass alle Bürgerinnen und Bürger dasselbe Recht haben auf politische Partizipation, auf Teilhabe am politischen Prozess, darauf ihre Erfahrungen, Meinungen, Überzeugungen, Wertvorstellungen und Interessen in den Prozess der politischen Willensbildung einzubringen.

Die rechtliche Ausformung dieses Rechtes trägt dem Umstand Rechnung, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger dasselbe Ausmaß an Zeit und Lust haben, sich mit den politisch zu lösenden Fragestellungen in aller Tiefe und Komplexität zu beschäftigen. Sie machen daher von ihrem Recht Gebrauch, die Einzelheiten der Lösungsfindung an von ihnen bestellte Fachleute zu delegieren. Sie sind zwar Auftraggeber und Souverän, aber sie lassen sich vertreten durch von ihnen auf Zeit gewählte Repräsentanten. Insofern sprechen wir von einer repräsentativen Demokratie. Auch in Ländern mit ausgeprägten direktdemokratischen Elementen wie der Schweiz werden die allermeisten politischen Entscheidungen von gewählten Repräsentanten in Regierungen, Parlamenten und Kommunalvertretungen entschieden. Und das ist auch gut und sinnvoll so. Das will ich nicht verändern.

B. Problembeschreibung

Politische Stabilität wird gefördert durch mehrjährige Wahlperioden, meist 4 oder 5 Jahre. Es dauert ja auch immer eine Zeit bis sich die Gewählten eingearbeitet haben, bis sie verstehen wie der Hase läuft, bis sie miteinander eine Vertrauensbasis entwickelt haben und so konstruktiv miteinander arbeiten können.

Gleichzeitig gibt es immer wieder Fragestellungen, die sich erst im Laufe der Zeit entwickeln und zum Zeitpunkt der Wahl noch nicht vorhersehbar waren, also auch nicht Grundlage der Wahlentscheidung sein konnten.  Andere Fragen sind für die Zukunft einer Gesellschaft so grundlegend wichtig, dass die Bürger sie gerne selber abschließend entscheiden würden. Bei wieder anderen Fragen teilen die Bürger nicht alle Überzeugungen und Vorhaben der von ihnen gewählten Politiker und würden gerne korrigierend eingreifen können. Wieder andere politische Lösungswege sind nur mit einer Zustimmung der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler überhaupt umsetzbar.

Und noch andere Fragen schieben Politiker vor sich her, weil sie Angst haben es sich mit dem Wähler zu verderben, anstatt ihn selber vor die Wahl zu stellen sich für eine der konkreten Alternativen zu entscheiden.

Kein gewählter Politiker darf sich erlauben zu handeln nach dem Motto:  „Jetzt habe ich die Macht durch Wahlen gewonnen, jetzt darf ich 4 Jahre lang damit machen, was ich will und wozu ich Lust habe.“

Manche Politiker erwecken dennoch bei einem Teil der Bürger den Eindruck, sie würden sich nach der Wahl nicht an das halten, was sie vor der Wahl versprochen haben. Manchmal liegt das auch einfach daran, dass sich der Wählerwille in Wahlergebnissen ausdrückt, die eine parlamentarische Mehrheitsbildung schwierig machen und von allen Beteiligten große Kompromissfähigkeit erfordern.

Die Kernaufgaben der Politik sind Konfliktbearbeitung und Konsensbildung.

Die Aufgabe von Politikern ist es, sich den Herausforderungen und Konflikten ihrer Zeit zu stellen und sie einer konstruktiven Bearbeitung und damit Lösung zuzuführen.

Die Aufgabe von Politik ist es zugleich, auf diesem Bearbeitungs- und Lösungsweg einen möglichst großen Konsens innerhalb der Bevölkerung wie innerhalb des Parlamentes durch Zuhören, Gespräch, Debatte und Überzeugungsarbeit zu finden oder herzustellen und ihm dann durch Beschlüsse, Ordnungen und Gesetze Ausdruck zu verleihen und so seiner Umsetzung durch staatliche und kommunale Einrichtungen und deren Mitarbeiter den Weg zu bahnen.

Politiker haben aufgrund ihrer Einsicht in die politischen, gesellschaftlichen und globalen Zusammenhänge auch die Aufgabe, ihre Wählerinnen und Wähler auf kommende und in der Entstehung befindliche Konflikte und Herausforderungen hinzuweisen, für diese Zusammenhänge Bewusstsein zu fördern und die Bereitschaft zu wecken, gemeinsam neue Wege zur Erarbeitung von Lösungen und deren Umsetzung zu beschreiten. Politiker haben somit auch eine prophetische Aufgabe und eine Leitungsaufgabe. Sie sollen nicht nur nachvollziehen, was an Meinungen und Lösungsvorschlägen bereits da ist. Nicht nur Konsens finden, sondern ihn auch bilden Nicht nur Mehrheiten hinterherlaufen, sondern sie auch schaffen, indem sie für neue Wege werben.

Sie dürfen jedoch nicht die Bevölkerung überfahren, ihr ihren Willen aufzwingen. Politiker haben kein Recht, die Bevölkerung zu ihrem vermeintlichen Glück zu zwingen. Politiker müssen es ertragen, wenn sie für ihre Vorschläge keine Mehrheit bekommen, wenn sie mit ihren Argumenten nicht überzeugen können. Das gilt nicht nur für die Anerkennung des Wahlergebnisses, das gilt auch innerhalb der Wahlperiode. All das widerspräche dem demokratischen Prinzip. Repräsentative Demokratie verleiht Macht auf Zeit. Aber keine unbeschränkte Macht. Sie ist nicht nur an Verfassung, Menschenrechte, Recht und Gesetz gebunden und wird von der Rechtsprechung kontrolliert.

Sie wird auch von der Öffentlichkeit und Presse kontrolliert und die Bürger haben vielfältige Möglichkeiten ihre Meinungen und Überzeugungen zu aktuellen politischen Fragen auszudrücken und mit ihren Erfahrungen, Einsichten und Vorschlägen zu einer möglichen Lösung beizutragen.

Nur was ist die Meinung des Wahlvolkes zu einer bestimmten politischen Fragestellung? Das, was in den Kommentaren oder Leserbriefen der Zeitungen veröffentlicht wird, oder was auf den sozialen Medien wie Facebook und Twitter am meisten geteilt wird oder am meisten Zustimmung erfährt? Das, was die Meinungsforschungsinstitute in ihren Umfragen als Mehrheitsmeinung ermitteln?

Manchmal meldet sich eine Initiative oder Interessengruppe lautstark zu Wort. Aber repräsentiert sie auch eine Mehrheit oder wenigstens einen größeren Teil der Bevölkerung?

In den letzten 4 Jahrzehnten, die ich politisch miterlebt habe, fühlt sich ein immer größerer Teil der Bevölkerung von der Politik entfremdet, vom politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen. Sätze wie „Die Politiker machen ja doch, was sie wollen“ sind ein Ausdruck dieser Haltung. Mittlerweile erlebe ich immer mehr, wie die Gefühle der Ohnmacht und Resignation in Wut und Hass umschlagen. Das geht dann manchmal schon mit der Verachtung aller Politiker und politisch Engagierten einher oder mit Wut auf eine vermeintlich korrupte Politikerkaste.

Je höher die politische Entscheidungsebene, je weiter entfernt der Ort der Entscheidungsfindung, je geringer die eigenen Einflussmöglichkeiten, desto größer sind Skepsis, Vorbehalte, Ohnmachtsgefühle und Resignation. Deshalb trifft es Europa noch mehr als die nationale Ebene. Deshalb hat aber auch die Zusammenlegung der Kommunen in Dänemark 2006 und die Bildung der Regionen das Vertrauen der Bürger in die Kommunalpolitik eben leider nicht erhöht.

Mittlerweile drückt sich diese Haltung nicht mehr nur in Wahlenthaltung und sinkenden Wahlbeteiligungen aus, auch nicht mehr primär in der Wahl linker Protestparteien, wie noch vor 20 oder 30 Jahren, sondern zunehmend in der Wahl rechter und populistischer Parteien und in rechten Protestbewegungen.
Auch dass von der Regierung vorgelegte Plebiszite zu Europafragen (Brexit / Rechtsvorbehalte in DK) negativ beschieden wurden, sehe ich in diesem Zusammenhang.

Und manche etablierte Parteien versuchen ihre Haut zu retten, indem sie sich fremdenfeindlichen, europaskeptischen oder nationalistischen Forderungen anpassen.

Wie können wir die Menschen wieder für die Demokratie zurückgewinnen, bzw. verhindern, dass immer mehr Menschen immer weniger von ihr überzeugt sind?

Wie können wir mehr Menschen ins Boot holen für die Erarbeitung von Lösungen für die Probleme und Herausforderungen, die sich uns heute stellen?

C. Mein Lösungsvorschlag

Ich sehe nach wie vor in einer wohl durchdachten Ergänzung unserer repräsentativen Demokratie durch direktdemokratische Elemente den geeigneten Lösungsweg.

Dazu gehören auf kommunaler Ebene der Einwohner- oder Bürgerantrag, das Bürgerbegehren und der Bürgerentscheid, auf der nationalen Ebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid, auf der europäischen Ebene entsprechend die Europainitiative, das Europabegehren und der Europaentscheid.

Mit der Initiative oder dem Antrag bekommen Bürger das Recht, ihren Antrag oder ihre Initiative dem jeweiligen Parlament vorzulegen, wenn sie eine bestimmte Anzahl von Unterschriften dafür gesammelt haben. Die Anzahl kann bei etwa 1 % der Wahlbevölkerung liegen.

Das Parlament muss dann innerhalb einer angemessenen Frist zu dem Anliegen Stellung nehmen. Es kann dazu auch in das Gespräch mit den benannten Initiatoren kommen und einen Konsens suchen.

Gelingt das nicht, tritt Stufe 2 in Kraft: Das Bürgerbegehren, Volksbegehren oder Europabegehren. Hierzu sammeln die Initiatoren weiterhin Unterschriften für einen konkreten Gesetzentwurf oder Beschluss, den das Parlament fassen soll. Gleichzeitig liegen auch in allen öffentlichen Einrichtungen Listen aus, in die Bürger ihre Unterstützung für das Begehren eintragen können. Auch eine Eintragung im Internet über gesicherte Verfahren wie NEMID ist sinnvoll.

Erreicht das Volksbegehren innerhalb einer bestimmten Frist, z.B. 3 Monaten, ein bestimmtes Quorum, z.B. 10 % der Wahlbevölkerung, so ist der Beschlussantrag oder Gesetzentwurf im Parlament zu behandeln. Kommt es nicht innerhalb von 3 Monaten zu einem Parlamentsbeschluss, der die Zustimmung der vom Volksbegehren benannten Vertreter findet, so kommt es zu Stufe 3: Dem Bürgerentscheid, Volksentscheid oder Europaentscheid.

Dieser ist innerhalb von 3 bis 9 Monaten nach dem Parlamentsbeschluss durchzuführen. Bei ihm dürfen alle Wahlberechtigten der entsprechenden politischen Einheit selber über die mit dem Volksbegehren vorgelegte Frage abstimmen.

Das Parlament hat das Recht, eine von ihm (mehrheitlich) formulierte Alternative gleichzeitig der Wahlbevölkerung zur Abstimmung vorzulegen. Erhält eine der Vorlagen die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen, dann gilt sie wie ein Beschluss des Parlamentes in letzter Lesung und ersetzt diesen.

Sind die Zustimmung mehrerer Kammern nötig, wie z.B. in Deutschland auf Bundesebene und in Europa, so ersetzt der Entscheid nur dann die Beschlüsse beider Kammern, wenn die Ergebnisse in den durch die Kammern vertretenen Regionen äquivalent zu den Abstimmungsmodalitäten in den Kammern ausfallen.

Prinzipiell kann das Parlament diesen Beschluss genauso umstoßen, wie es seine eigenen Beschlüsse revidieren kann. Ob das politisch ratsam ist, kommt sehr auf den Einzelfall an.

Selbstredend müssen die in Volksinitiativen und Volksbegehren vorgebrachten Anliegen konform gehen mit Verfassung und Menschenrechten und können von Gerichten als unzulässig erklärt werden.

Man sieht schon: Direkte Demokratie fördert einen längerfristigen Diskussion- und Meinungsbildungsprozess und erlaubt keine Schnellschüsse. Und dennoch kann in angemessener Zeit eine wichtige Frage vom Bürger als Souverän selber entschieden werden. Dabei hat jeder Bürger auch das Recht, statt sich tief in die vorgelegte Einzelfrage zu vertiefen, seine Stimmabgabe von dem Rat der Regierung oder einer Person, Partei oder Organisation seines Vertrauens abhängig zu machen.

Jede Bürgerin, jeder Bürger hat damit die Möglichkeit, die an ihre Repräsentanten auf Zeit delegierte Macht, in Einzelfällen zurückzufordern und selbst wahrzunehmen. Damit kann sich niemand mehr hinter Politikern verstecken oder auf sie schimpfen. Jede und jeder trägt selbst Verantwortung was in ihre Kommune, ihrem Land oder in Europa geschieht.

Die Erfahrung zeigt, dass Menschen, die selber das Recht haben, Initiativen auf den Weg zu bringen und abzustimmen, ihre Verantwortung überwiegend sehr ernst nehmen. Menschen etwas zuzutrauen lässt sie in der Regel wachsen. Das ist das Geheimnis des „Empowerment“.

Dabei besteht ein großer Unterschied zwischen Ländern, in denen Volksbegehren und        Volksentscheide auf Initiativen aus der Bevölkerung eine regelmäßig geübte Praxis sind und solche, in denen die Regierung hin und wieder ein Plebiszit ansetzt. Im letzteren Fall, wird dies von einer hinreichend großen Zahl Abstimmender gerne dazu genutzt, um der Regierung oder auch dem ferneren Europa  „eins auszuwischen“, wie zahlreiche  Abstimmungen zu europäischen Themen in den letzten Jahren zeigen. Dies wird sich auch nicht ändern, so lange es den Bürgern nicht möglich wird, durch Europaentscheide auch direkten Einfluss auf europäische Entscheidungen zu nehmen.

In Schleswig-Holstein gab es in den ersten 20 Jahren seit der Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden am 1. April 1990  347 direktdemokratische Verfahrens, von denen 169 zur Abstimmung gelangten.

Die Erfahrung zeigt, dass allein die Möglichkeit Bürgerbegehren zu starten, an vielen Orten zu einer Verbesserung der politischen Kultur geführt hat. Kommunalpolitiker beziehen Bürger früher und aufmerksamer in die Entscheidungsfindung ein, um einen Stopp ihrer Entscheidungen durch einen Bürgerentscheid zu vermeiden.

Natürlich führen Bürgerentscheide nicht automatisch zu den Ergebnissen, die ich mir wünsche. Einer der ersten Bürgerentscheide in Schleswig-Holstein verhinderte die Etablierung einer Gesamtschule bei uns in Uetersen. Er verhinderte eben damit auch, dass den Bürgern etwas aufgezwungen wurde, was sie zum damaligen Zeitpunkt nicht wollten. Mittlerweile ist die Rosenstadtschule längst als Gemeinschaftsschule angenommen und etabliert.

III. Zu den Argumenten gegen Volksentscheide

Welche Argumente werden gegen Bürgerentscheiden und Volksentscheide vorgebracht?

Das Hauptargument gegen Volksentscheide lautet: Die meisten Bürger könnten komplizierte politische Sachverhalte nicht wirklich verstehen und daher auch nicht angemessen entscheiden. Vielmehr würden sie aus dem Bauch heraus unüberlegte, falsche und gefährliche Entscheidungen treffen, populistischen Argumenten verfallen und dabei kurzfristig geschürten Emotionen folgen. Im Grunde sagt diese Argumentation: Die Bürger sind dumm, unmündig und verführbar und handeln daher verantwortungslos. Deshalb müssen sie von den klügeren und weiseren Politikern bevormundet und auf die richtige Bahn gebracht und notfalls auch gezwungen werden.

Man merkt schon an dieser Zuspitzung dieser Argumentationsweise: Sie ist im Kern antidemokratisch. Wäre der Bürger so unmündig, dann dürfte er auch kein Wahlrecht haben. Und mittlerweile ist klar: Der Wähler wählt nicht nur kluge und weise Politiker, sondern auch dumme Politiker. Und die verteilen sich weder auf bestimmte Parteien, noch auf die unterschiedlichen Lager, sondern finden sich beide in allen Parteien.

Ja, in der Tat: manche Wähler treffen verantwortungslose und gefährliche Wahlentscheidungen. Das ist aber kein Grund, die Demokratie abzuschaffen und durch eine objektive und weise Technokratenherrschaft zu ersetzen.

Genauso spricht das Argument nicht gegen Volksentscheide. Ja, Menschen können sich auch bei Volksentscheiden dumm und verantwortungslos entscheiden. Ja, Wähler und Abstimmende können Fehler machen. Politiker übrigens auch.

In den 70er und 80er Jahren waren es vor allem Linke und Grüne, die mehr Direkte Demokratie gefordert haben, in der Hoffnung, damit Atomkraftwerke oder Atomraketen loszuwerden. Heute steht die Forderung nach Direkter Demokratie auch bei Parteien hoch im Kurs, die sich weniger Flüchtlinge und mehr Grenzen wünschen. Das macht Linke wieder skeptisch. Manche beginnen von ihren alten Forderungen wieder abzurücken. Das halte ich für fatal. Mehr Direkte Demokratie kann und muss ein gemeinsames Anliegen aller politischen Richtungen sein. Und der mit ihr verbundene Lernprozess kann uns alle zu besseren Demokratinnen und Demokraten machen.

Die Chance von Volksentscheiden liegt darin, dass sie Menschen einlädt, an dieser einen konkreten politischen Fragestellung etwas tiefer nachzudenken und selber eine verantwortliche Entscheidung zu treffen. Volksentscheide vertiefen und erhöhen also langfristig das politische Bewusstsein. Sie sind also zugleich ein Mittel der politischen Entscheidungsfindung wie der politischen Bildung.

Wir brauchen zur Lösung der gegenwärtigen politischen Fragen mehr Menschen, die mitdenken und ihre Erfahrungen in die Suche nach Lösungswegen einbringen. Volksbegehren und Volksentscheide sind ein Mittel, mehr Menschen in die politische Willensbildung einzubeziehen und die Demokratie fester in der Bevölkerung zu verankern. Wer selber Verantwortung übernimmt und selber abstimmen kann, fühlt sich nicht mehr ohnmächtig und geht damit Populisten weniger auf den Leim.

Schade, dass man in Großbritannien kein Volksbegehren für einen Ausstieg aus dem Brexit starten kann. Schade, dass man in den USA zwar Volksentscheide auf der Ebene vieler Staaten hat, aber nicht auf nationaler Ebene. Sonst könnte man Initiativen zur Abschaffung des Wahlmännergremiums starten und Initiativen, um einige der fatalsten Beschlüsse von Präsident Trump möglichst bald wieder zu kippen.

Schlimmstenfalls würde man feststellen, dass er in der einen oder anderen Frage tatsächlich den Rückhalt einer Mehrheit der Wahlberechtigten hätte.

Wenn Trump seine Versprechen aus seiner Inaugurationsrede wahrmacht, die Politik der Bevölkerung zurückzugeben, dann müsste er sich für die Einführung von Volksentscheiden auf der Bundesebene der USA einsetzen. Dann müsste er die Bevölkerung abstimmen lassen darüber, welche Krankenversicherung sie vorzieht: Obamacare oder als Alternative Trumpcare. Ich wäre gespannt, wie die Abstimmung ausgeht. Zumindest würde sie die Republikaner zwingen, tatsächlich eine tragfähige Alternative vorzulegen.

Ähnlich ist es in Dänemark und Deutschland. Eher knicken Politiker der Mitte vor den Forderungen von Populisten ein, als dass tatsächlich in Abstimmungen absolute Mehrheiten für solche Positionen zu finden sind.

Ein besonderes Gegenargument in Nordschleswig sind vielleicht die Erfahrungen der deutschen Bevölkerung Nordschleswigs mit der Volksabstimmung im Jahr 1920. Dass eine Grenzziehung erstmals friedlich durch Volksabstimmung statt durch Krieg entschieden wurde, war ein riesiger Fortschritt.
Allerdings wurde der Modus der en-bloc-Abstimmung mit einer Grenze südlich von Hojer, Tondern, Buhrkall und Tingleff von der deutschgesinnten Bevölkerungsmehrheit in diesen Orten als unfair empfunden. Auch hier war es ein von oben angesetztes Plebiszit. Korrekturen und Initiativen von unten für einen anderen Grenzverlauf hatten keine Chance.

Dabei war das Abstimmungsergebnis gleichzeitig eine Folge von Dummheit und Arroganz auf der Seite der deutschen Politik. Ursprünglich war ja eine Volksabstimmung in Nordschleswig vorgesehen gewesen um den Grenzverlauf mit dem Willen und der nationalen Gesinnung der lokalen Bevölkerung in Übereinstimmung zu bringen. Doch diese Vorschrift wurde einseitig von der preußischen Seite gestrichen. Hätte man stattdessen im Jahre 1900 oder 1910 eine Volksabstimmung in Nordschleswig durchgeführt, entweder auf Gemeindebasis oder mit Abstimmungsbezirken auf der Basis der letzten Reichstagswahlergebnisse, so würde die Grenze heute vermutlich ein klein wenig weiter nördlich verlaufen. Das Beispiel der Volksabstimmung von 1920 ist also absolut kein Argument gegen Volksabstimmungen, aber sehr wohl ein Argument gegen zu späte Volksabstimmungen und gegen Volksabstimmungen mit unfairen Bedingungen.

Ich fände, es stände der dänischen Politik gut an, das Hundertjährige Jubiläum von Volksabstimmung und Wiedervereinigung in der kommenden Legislaturperiode dazu zu nutzen, in Dänemark für die Einführung von Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene und Volksentscheiden auf nationaler Ebene zu werben. 

Ein anderer Einwand aus der Sicht einer Minderheit mag angemessen sein: Was ist mit Minderheitenrechten?

Zum Ersten: Soweit Minderheitenrechte in Verfassungen, internationalen Verträgen und Menschenrechtskonventionen garantiert sind, dürfen sie gar nicht zum Gegenstand von Volksentscheiden werden. So wie auch ein einfacher Parlamentsbeschluss sie nicht einfach wegwischen kann.

Zum anderen: Minderheitenrechte sind immer auch abhängig vom Goodwill und der Zustimmung der Mehrheit, von der politischen Kultur eines Landes. Da macht es keinen Unterschied, ob diese Mehrheit ihre Wünsche in Wahlen oder Abstimmungen ausdrückt, durch einen Parlamentsbeschluss oder durch einen Volksentscheid.

Die deutsche Minderheit in Dänemark braucht auch langfristig den Goodwill und die Rückendeckung nicht nur einzelner Politiker, sondern der Bevölkerungsmehrheit. Dafür müssen wir immer wieder werben. Die Sympathiewerte, die unsere Kommunalpolitiker der SP im Wahlkampf und in ihrer politischen Arbeit dabei einfahren, sind dafür ein wichtiger Baustein. Die gute und sympathische Arbeit unserer deutschen Institutionen und Vereine ein anderer.

Wo die Mehrheit ihre Grenzen hat und damit auch die Politiker, das haben wir in der Debatte um deutsche Ortsschilder schmerzlich genug erlebt. Diese Frage würde sicher auch in einem Bürgerentscheid nicht für uns entschieden werden.

In Schleswig-Holstein sind mir aus den letzten 25 Jahre jedenfalls keine landesweiten Volksbegehren oder kommunalen Bürgerbegehren bekannt, die sich gegen die dänische Minderheit und ihre Institutionen gerichtet hätten. Das würde ich auch in Nordschleswig nicht erwarten.

IV. Was Volksentscheide bewirken können. Und was nicht.

Volksentscheide sollen Bürger empowern, ermutigen, Ohnmacht und Resignation überwinden, ihr Bewusstsein für politische Zusammenhänge schärfen und sie einladen, bewusst Verantwortung für ihr Gemeinwesen zu übernehmen.

Aber machen Volksentscheide sie auch zu besseren Menschen? Leider nein. Prinzipiell bleiben wir Menschen trotzdem so fehlerbehaftet und auf uns selbst bezogen, wie wir es vorher schon sind. Und das werden Volksentscheide genauso widerspiegeln wie Wahlen und die parlamentarischen Entscheidungen der Politiker. 

Dass wir Menschen uns ändern, das ist eine Frage der Herzensbildung und der Arbeit an der eigenen Spiritualität, ja auch eine Frage der glaubensmäßigen Verankerung in der Liebe Gottes. Zu all dem hätte ich als Pastor einiges und Wesentliches zu sagen. Aber dafür ist hier nicht der Ort. Zu diesem Thema lade ich euch herzlich in meine Gottesdienste und die meiner Kolleginnen und Kollegen ein.

Mit herzlichen Grüßen,

Achim Strehlke, 12.4.2017


 [1]